Danja: Hallo Michelle. Vielen Dank, dass du mit mir dieses Gespräch führst. Ich bin schon sehr gespannt darauf. Damit unsere Leser*innen wissen, wer du bist, kannst du dich gerne kurz vorstellen.
Michelle: Herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch, ich fühle mich geehrt. Gerne stelle ich mich kurz vor: Ich bin Michelle Meyer, 23 Jahre jung und politisch aktiv auf vielerlei Arten. Mitte September starte ich das 7. Semester meines Studiums in Politikwissenschaft mit Nebenfach Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. Nebenher arbeite ich auf der Geschäftsstelle der GRÜNEN Kanton Luzern. In meiner Freizeit bin ich Co-Präsidentin der Jungen Grünen Kanton Luzern und nehme regelmässig an Klimastreiks und feministischen Veranstaltungen teil, war auch zwei Jahre beim Frauenstreik Kollektiv Luzern aktiv.
Danja: Spannend! Wann und wieso hast du beschlossen, politisch aktiv zu sein und wieso in dieser Partei?
Michelle: Phu, das ist eine gute Frage, denn ich bin ziemlich unpolitisch aufgewachsen. Als ich von meinem Austauschjahr aus den USA zurück in die Kantonsschule kam, wurde ich ja in eine neue Klasse gelegt. In diesem neuen Umfeld und auch mit der Tatsache, dass wir im Deutsch-, Geschichts- und Staatskundeunterricht viel diskutierten, merkte ich, dass ich mit Vielem nicht einverstanden bin wie es in der Schweiz und auf der Welt läuft. Einerseits gab es im Umfeld Beromünster wenig Frauen, die sich wie ich für Gleichstellung interessierten und aussprachen, andererseits schien niemand die Klimakrise ernstzunehmen oder unser kapitalistisches System zu hinterfragen. Als wir dann im Unterricht unseren Smartvote-Fragebogen ausfüllten, war die politische Tendenz klar.
Glücklicherweise besuchte Judith Schmutz (heute Kantonsrätin der Grünen Kanton Luzern und Sekretariat der Jungen Grünen Kanton Luzern) dieselbe Kantonsschule und fragte mich, ob ich sie mal an eine Mitgliederversammlung der Jungen Grünen begleiten möchte. Ich sagte spontan zu und bin seither – das sind nun viereinhalb Jahre – bei den Jungen Grünen dabei.
Danja: Für welche Themen setzt du dich am stärksten ein und welche aktuelle Debatte beschäftigt dich am meisten?
Michelle: Meine Kernthemen – wie sich schon erahnen lässt – liegen sicherlich beim Feminismus und der Klimapolitik. Aber auch Bildungspolitik, Kapitalismuskritik und Gesundheit/Ernährung gehören in die Top 5. Finde es aber schwer, mich da festzulegen. Sobald ich mich in ein neues Thema einlese, fallen mir wieder 1000 Dinge auf, die ich gerne verändern würde.
Aktuell beschäftigen mich natürlich die Abstimmungen, speziell die Ehe für alle. Für mich ist es absurd, dass wir überhaupt noch darüber abstimmen müssen und die homophoben Gegenargumente widern mich an. Wie kann man bloss so menschenverachtend und blind sein? Wie können Menschen im Jahr 2021 immer noch nicht jegliche Form der Liebe akzeptieren? Des Weiteren hat der Kanton Luzern gerade einen Planungsbericht zum Thema Gleichstellung, basierend auf einem wissenschaftlichen Bericht der HSLU veröffentlicht. Diesen schauen wir uns zusammen mit Frauen* der Grünen und Jungen Grünen Kanton Luzern an, diskutieren darüber und erarbeiten in der Fraktion dann eine Vernehmlassung. Der Bericht wurde als Folge des Frauenstreiks von 2019 in einer Petition gefordert, danach von der zuständigen Kommission in eine Kommissionsmotion umgewandelt und diese im Kantonsrat angenommen. Mit diesem Bericht haben wir eine wichtige Übersicht über bisherige Arbeit, wissen was gerade läuft und er dient als Grundlage für zukünftige Forderungen. Ich bin gespannt, wohin die Gleichstellungspolitik geht, erwarte mir aber ehrlicherweise im Kanton Luzern nicht allzu viel. Der Kantonsrat – und insbesondere der Regierungsrat – sind einfach zu bürgerlich, alt und männlich… Dennoch bin ich froh, dass immerhin in die richtige Richtung gedacht wird und die Regierung mehr oder weniger bereit ist, Massnahmen für mehr Gleichstellung zu ergreifen.
Danja: Das ist ja toll, dass der Frauenstreik etwas ins Rollen gebracht hat! Feminismus und Antirassismus sind meine beiden Kernthemen. Auch Umweltschutz (insbesondere Tierschutz) und Klimapolitik sind mir sehr wichtig und ich versuche da privat mein Bestes zu tun. Habe aber auch gemerkt, dass ich mich da (noch) nicht aktiv, nach aussen hin, engagieren möchte, da es mir einfach zu viel wird, in allen Bereichen Präsenz zu markieren.
Arbeitet ihr in Feminismus-Themen auch parteiübergreifend zusammen?
Hast du das Gefühl, du hast es als junge Frau in der Politik schwerer als männliche Kollegen? Werden dir Steine in den Weg gelegt oder hast du auch schon schlechte Erfahrungen gemacht, da du als Politikerin in der Öffentlichkeit stehst?
Michelle: Ich finde es wichtig, dass nicht alles perfekt sein muss. It’s a journey. Sowohl beim Feminismus und beim Antirassismus, als auch beim Umweltschutz und der gesamten Klimapolitik kann man jeden Tag dazulernen und an sich arbeiten. Dennoch muss man aufpassen, dass es nicht das gesamte Leben einnimmt. Das ist auch als Co-Präsidentin einer Jungpartei, die sich für all die oben genannten Themen einsetzt, nicht immer einfach. Dennoch kann ich verstehen, wenn es einen überfordert, sich in allen Bereichen öffentlich zu äussern und auch das Risiko einzugehen, dafür gejudget oder gecancelt zu werden.
Die Zusammenarbeit bei Feminismus-Themen erfolgt einerseits durch den feministischen Streik. Dieser ist zwar unparteiisch per se, jedoch ist es schon eine Realität, dass viele linke FINTA* aktiv mitwirken. Im Vorfeld der kantonalen Wahlen 2019 gründete sich andererseits der Verein “Frauen Luzern Politik“, in welchem sich alle kantonalen Parlamentarierinnen überparteilich zusammenschlossen. Ansonsten geht jede Partei ihren eigenen Weg zu mehr Gleichstellung, alle in ihrem Tempo. Die SP zum Beispiel hat ein grosses Frauennetzwerk, die GRÜNEN sind auch daran, dies immer mehr aufzubauen und bei den Jungen Grünen organisieren wir demnächst ein FINTA*-Treffen, um über Hass und Belästigung als Person in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Dass es als (junge) Frau schwerer ist in der Politik ist kein Geheimnis. Oft habe ich das Gefühl, belächelt, nicht ernstgenommen und auf mein Äusseres reduziert zu werden. Es wird einem das Gefühl vermittelt, doppelt und dreifach so kompetent, fleissig und engagiert sein zu müssen wie gleichaltrige Parteikollegen. Wenn ich einen starken Auftritt hinlege, dann werde ich als arrogant und karrieregeil abgestempelt. Bin ich hingegen einfühlsam und zeige Emotionen, ist das ein Zeichen von Schwäche und “eben doch nicht gemacht für so ein Amt”. Tatsächlich kamen auch schon oft Hassnachrichten. Nach dem FCL Cupsieg beispielsweise habe ich mich sehr kritisch zur Feier in der Neustadt und vor der Allmend geäussert. Im Stundentakt für mehrere Tage erhielt ich Hassnachrichten per Mail, via Facebook und Instagram, einer schrieb sogar einen Brief. Auch sonst gibt es anonyme Hassnachrichten, welche mich zum Rücktritt auffordern, mir vorwerfen das alles nur für meine eigene Karriere zu machen, mir sagen, dass beim letzten Co-Präsidium alles besser lief, dass ich mediengeil sei usw.
Danja: Was sind das genau für Hassnachrichten? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen selten «neutral» kritisiert werden, sondern immer auf sexistische Weise. Wie gehst du damit um? Wie schützt du deine mentale Gesundheit?
Michelle: In den Hassnachrichten geht es unter anderem darum, wie ich mich als Co-Präsidentin engagiere. Es fallen Sätze wie “du bist egozentrisch unterwegs, du machst das alles nur für deine Karriere, spiel dich nicht so auf”. Was diese Personen nicht berücksichtigen ist natürlich unsere Aufgabenverteilung innerhalb des Vorstands und des Co-Präsidiums. Ich bin offiziell Mediensprecherin, logisch sieht man mich oft in den Medien. Mich sieht man aber immer als Co-Präsidentin der Jungen Grünen und die Parteimeinung zu einem Thema – ich als Person bin eigentlich irrelevant. Bekennend für mich ist, dass meine Vorgänger diese Probleme nicht hatten. Obwohl sie z.B. genau so oft in den Medien zu sehen waren, wurde es immer als “wow er ist so engagiert, cool äussert er sich dazu” wahrgenommen. Sobald eine Frau diese Rolle einnimmt, spielt sie sich auf, drückt sich in den Vordergrund und es geht nur um sie. Gefühlt muss ich als Frau immer alles doppelt so gut wie meine Vorgänger machen, um überhaupt annähernd so ernstgenommen zu werden. Ich muss wie ein Roboter 24/7, 365 Tage im Jahr funktionieren, mir darf kein Fehler unterlaufen. Und wenn doch, dann liegt es bestimmt daran, dass ich eine Frau bin, Frauen eben doch zu emotional für so eine Rolle sind, usw.
Wichtig im Umgang mit Hass ist sicher die Unterstützung in meinem privaten Umfeld, aber auch vom Vorstand der Jungen Grünen in diesem Fall. Da die Nachrichten anonym waren, ist es wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, wie feige diese Aktion ist. Kritik ist völlig legitim, mit Sicherheit mache ich nicht alles richtig, oder zumindest nicht so wie andere es auch machen würden. Konstruktive Kritik ist jederzeit willkommen, aber dann gerne im Gespräch mit einer Person und nicht anonym via Kontaktformular. Ich kenne den Beweggrund hinter diesen Nachrichten nicht, aber ich denke, dass Unwissen und Eifersucht grosse Treiber dafür sind.
Tatsächlich finde ich es schwierig, davon Abstand zu nehmen. Anders als ein 8-5-Job, bin ich 24/7 in der Rolle als Co-Präsidentin und auch Hassnachrichten können jederzeit auftauchen. Das heisst es liegt an mir, Grenzen zu setzen und davon abzuschalten. Das mache ich beispielsweise beim Sport, draussen beim Spazieren und in der Freizeit mit Freund*innen. In dieser Zeit versuche ich nicht am Handy und stattdessen im Moment präsent zu sein. Auch das Kochen ist me-time, in der ich bewusst abzuschalten versuche. Zudem spreche ich aktiv mit Menschen, die mir nahestehen, über Hass und sonstige Struggles. Mir hilft es, eine Aussenperspektive zu erhalten und die Situation zu relativieren, denn in meinem Kopf mache ich oftmals ein grösseres Problem daraus, als es tatsächlich ist. Diesen Sommer war ich 3 Wochen in den Sommerferien, in denen ich keine politischen Nachrichten beantwortet habe, nicht auf Social Media war und mein Laptop blieb ebenfalls zu Hause. Solche Auszeiten geben mir Kraft, danach wieder Vollgas zu geben.
Danja: Das mit den Grenzen setzen, kenne ich gut. Daran arbeite ich auch immer. Manchmal fällt es mir leichter, manchmal schaffe ich es fast gar nicht und merke es dann spätestens, wenns mir richtig schlecht geht.
Zweifelst du manchmal an dir oder deinem politischen Engagement?
Michelle: Auch ich kenne das “erst zu spät reagieren” sehr gut. Obwohl mir mein Umfeld das auch zurückmeldet, wenn ich gestresst oder unhappy wirke, braucht es dann meistens zu lang, bis ich reagiere und Massnahmen ergreife.
Klar zweifle ich an mir. Oft sogar. Sowohl als Privatperson, als auch als Co-Präsidentin. Teilweise ist das gut, denn ich will mein Verhalten reflektieren und wo nötig verbessern. In vielen Fällen bin ich jedoch überselbstkritisch. Zu perfektionistisch, zu vielseitig engagiert, zu hohe Erwartungen von aussen und von mir. Ich kann gar nicht alles 100% perfekt machen, denn auch mein Tag hat nur 24 Stunden. Oft habe ich jedoch das Gefühl, gar nichts richtig zu machen und egal was ich versuche, jemand hat immer etwas an mir und meiner Arbeit zu kritisieren. Diese Kritik (und auch die Hassmails) nehme ich dann schnell zu persönlich. Es bereitet mir Mühe, Kritik an meiner Arbeit oder meiner politischen Haltung von Kritik an mir als Person zu trennen. Daraus folgt, dass ich in den Momenten glaube, nicht gut genug zu sein, dem Amt als Co-Präsidentin nicht gewachsen zu sein, keine Verantwortung übernehmen zu können, dass mir alles zu viel wird. Meistens weckt das nach einer gewissen Zeit eine Kämpferin in mir, die beweisen will, dass ich das kann und dieser Kritik trotzt. Und wie die meisten Menschen (leider!) zweifle auch ich an meinem Körper, respektive habe da meine Unsicherheiten.
Danja: Was wünschst du dir von der Schweizer Politik in Zukunft und was sind deine persönlichen Träume und Visionen?
Michelle: Ich wünsche mir, dass Menschen weniger kurzfristig und egoistisch denken. Wir haben in der Schweiz so viele Möglichkeiten, für eine bessere Zukunft zu kämpfen und über spannende Vorlagen abzustimmen, doch das wird zu wenig genutzt. 50% der Abstimmenden sind über 60 Jahre alt, die Mehrheit davon männlich. Das sind nicht die Menschen, die etwas verändern wollen oder deren Zukunft es betrifft. Ich wünsche mir, dass mehr junge Menschen ihr Stimmrecht nutzen, denn nur schon das Stimmrecht ist ein Privileg. Ich wünsche mir, dass alle in der Schweiz wohnhaften Personen mitbestimmen können, unabhängig von ihrer Herkunft. Und ich wünsche mir, dass der Ständerat abgeschafft und mit einem Generationenrat ersetzt wird (not gonna happen, wir bräuchten dafür ein Ständemehr). Ich wünsche mir, dass mehr FINTA* Verantwortung und Führung übernehmen in der Politik, denn es ist auch bei linken Parteien eine riesige Herausforderung, Kandidatinnen oder Präsidentinnen zu finden. Und zuletzt wünsche ich mir, dass die Klimakrise endlich als solche behandelt wird. Bei COVID-19 haben wir bewiesen, dass wir eine Pandemie weltweit bekämpfen wollen und können. Die Dringlichkeit ist bei der Klimakrise genauso gegeben und trotzdem kämpfen wir um jede Massnahme und jeden Rappen dafür.
Persönlich wünsche ich mir, dass es mehr Safe Spaces gibt in dieser Welt. Orte ohne Diskriminierung und Belästigung. Orte, an denen sich alle wohlfühlen und sich selbst sein können. Ich gebe mein Bestes, damit die Jungen Grünen ein solcher Ort sind. Doch auch in mir stecken noch viel zu viele alte Muster voller Sexismus und Rassismus, an welchen ich täglich arbeiten möchte. Ich wünsche mir, dass junge Frauen in 10 Jahren nicht mehr dieselben Probleme haben wie wir. Dass Lohngleichheit selbstverständlich ist und sie in allen Berufsgruppen Frauenvorbilder finden. Dass Regierungen und Parlamente endlich repräsentativ für unsere Bevölkerung sind. Dass sie nicht mehr mit Angst durch die Welt gehen, sondern selbstbewusst und erhobenen Hauptes. Das heisst ich wünsche mir auch für mich selbst, dass es weniger Situationen gibt, in denen ich mich als junge Frau nicht ernstgenommen fühle. Dass ich mich davon nicht einschüchtern lasse, aber auch, dass es keinen Grund dazu mehr gibt. Dass ich nicht ständig auf mein Alter, Geschlecht und Äusseres reduziert werde. Dass ich mich abends nicht mehr unwohl fühle, wenn ich alleine durch die Strassen gehe. Dass sich FINTA* gegenseitig bestärken, statt ihre grössten Konkurrentinnen zu sein. Ich wünsche mir, mehr Selbstvertrauen zu haben und stolz zu sein auf meine Leistungen, ohne dass es als arrogant abgestempelt wird.
Danja: Das kann ich alles so unterschreiben. Vielen Dank liebe Michelle für das Gespräch, deine Offenheit und dein Vertrauen. Du bist wirklich ein tolles Vorbild, insbesondere für jüngere Frauen und Mädchen, die sich ebenfalls für Politik interessieren. Bleib dir selbst treu – du kannst wirklich stolz auf dich sein!!
*Du findest Michelle auf den sozialen Medien und auf der Website der Jungen Grünen Kanton Luzern.
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